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Unternehmergespräch 2024: Unser Gesundheitswesen neu denken

«Wir sind daran, die hohe Qualität unseres Gesundheitswesens zu gefährden»

von Andreas Schürer, rivedia.com

Das Schweizer Gesundheitswesen ist qualitativ top, Selbstgefälligkeit wäre aber fehl am Platz, im Gegenteil: Die Herausforderungen sind gross. Am Unternehmergespräch 2024 der Unternehmergruppe Wettbewerbsfähigkeit waren sich die Referierenden einig: Die Akteure des Gesundheitswesens müssen die Probleme selbst lösen – sonst drohen weitere Regulierungen. Wie das Gesundheitssystem neu zu denken ist, erläuterten Yvonne Gilli, Präsidentin des Ärzte-Berufsverbands FMH, Regine Sauter, Nationalrätin (FDP) und Präsidentin des nationalen Spitalverbands H+, Christian Schär, Präsident des Verbands Zürcher Krankenhäuser, und Gregor Zünd, ehemaliger CEO des Universitätsspitals Zürich.

Die Tonalität am Unternehmergespräch 2024 im Zunfthaus zur Schmiden in Zürich kam einem Weckruf gleich. Bereits einleitend sagte Kaspar Niklaus, neu gewählter Präsident der Unternehmergruppe Wettbewerbsfähigkeit (UGW), dass die Entwicklung sehr dynamisch sei, die Schweiz aber die Zeichen der Zeit nicht erkannt habe: «In der Digitalisierung ist die Schweiz im Gesundheitswesen ein Drittweltland.» Christian Schär, Präsident des Verbands Zürcher Krankenhäuser, nahm in seinem Referat den Faden auf und unterstrich: «Es ist wirklich erstaunlich, dass wir in der reichen Schweiz in der Digitalisierung international hinten liegen.»

Versorgungssicherheit fokussieren, Kostenröhrenblick beenden

Auch generell fiel Christian Schärs Diagnose für das heutige Gesundheitswesen wenig schmeichelhaft aus. «Wir sind überreguliert und unterfinanziert», sagte er summarisch und nannte folgende Problempunkte: Die Alterung der Gesellschaft, die einen Mehrbedarf an medizinischen Leistungen bringen wird, den sich zuspitzenden Fachkräftemangel, die zunehmende Regulierungsdichte und ambulante Zulassungsbeschränkungen.

In Bezug auf den Fachkräftemangel mahnte Christian Schär, dass bis 2040 5’500 Ärztinnen und Ärzte fehlen werden. Dass immer noch am Numerus Clausus und an der sehr langen Ausbildungsdauer festgehalten werde, sei für ihn unerklärlich. Das Resultat sei, dass Nachwuchs stark überproportional im Ausland rekrutiert werden müsse.

In einen Erste-Hilfe-Koffer für das Gesundheitswesen gehören für den Präsidenten des Verbands Zürcher Krankenhäuser unter anderem die Umsetzung der einheitlichen Finanzierung von ambulanten und stationären Leistungen (EFAS), die allerdings von linker Seite mit einem Referendum blockiert zu werden droht, konsequentes Vorantreiben der Digitalisierung, kostendeckende und innovationsfördernde Tarifstrukturen, die Umsetzung der Pflege-Initiative und kostendämpfende Massnahmen.

Christian Schär, Präsident Verband Zürcher Krankenhäuser

Zwei Themen hob Christian Schär darauf besonders hervor. Zum einen ist für ihn zentral, dass der Kostenröhrenblick beendet und auf Versorgungssicherheit fokussiert wird. Entgegen allen Unkenrufen sei das Gesundheitswesen in der Schweiz nämlich nicht überteuert. Die Kosten lägen mit 11,1 Prozent des BIP im europäischen Mittelfeld. Zum anderen müssten in den Spitälern ambulante Behandlungen ausgebaut werden. Dazu gehöre, die heutigen Ausbildungsmodelle auf Gesundheitsberufe der Zukunft auszurichten. Konkret steige der Bedarf nach medizinischen Praxisassistentinnen und -assistenten. Christian Schär schloss mit einem Zitat von Fridolin Marty von Economiesuisse: «Nicht die Überversorgung wird das Problem der Zukunft sein, sondern die Unterversorgung. Der Personalmangel stösst nämlich auf eine zunehmende Nachfrage nach Gesundheitsleistungen, weil die geburtenreichen Jahrgänge nicht nur pensioniert, sondern in den kommenden Jahren mehr und mehr gesundheitliche Dienstleistungen in Anspruch nehmen müssen.»

Steuern mit Qualität statt Volumen

Gregor Zünd, ehemaliger CEO des Universitätsspitals Zürich, ging in seinem Inputreferat auf Grundsatzfragen ein: «Wenn wir das System ändern wollen, müssen wir eine Modelldiskussion führen.» Seine Losung lautet, auf Klasse statt auf Masse zu setzen und die Qualität als Leitstern zu nehmen. Um das System respektive den 91-Milliarden-Gesundheitsmarkt zu steuern, werde besser nicht auf Volumen gesetzt, sondern eben auf Qualität.

Um die heutigen Qualitätsprobleme zu illustrieren, nannte Gregor Zünd beispielhaft die hohe Diversität beim Einsatz von Diskusprothesen und von Vertebroplastien. Eine Karte der Schweiz zeigt, dass solche Prothesen und Vertebroplastien in Schweizer Kantonen und Regionen sehr unterschiedlich eingesetzt werden. Insgesamt sei unbestritten, dass wir in der Schweiz ein Qualitätsproblem hätten, meinte Gregor Zünd. Bisher sei es aber nicht gelungen, den vielfach geforderten Qualitätswettbewerb in Gang zu setzen.

Gregor Zünd, ehem. CEO UniversitätsSpital Zürich

Gregor Zünd schlussfolgerte, dass wir heute in einem Blindflug flögen und keine einheitlichen Standards hätten. Qualität werde mal da und mal dort gemessen – aber nicht strategisch und strukturiert. Daraus folgt für ihn: «Wir zahlen viel für eine zu heterogene Qualität und mangelnde Transparenz.» Aus dem Gesagten geht hervor, dass Führungs- und Gestaltungswille gefragt sind oder wie Gregor Zünd es formulierte: «Entscheidend ist die Steuerung. So können wir auch die Kosten senken. Wir sollten nicht jeden Anbieter mitziehen, der ungenügende Qualität bietet.»

In der aktuellen Qualitätssteuerung verhindern für Gregor Zünd zu viele Interessenkonflikte strukturierte und unabhängige Qualitätsmessung. Zudem werde zu viel durch das Bundesamt für Gesundheit gesteuert. Sein Lösungsvorschlag lautet, den Qualitätswettbewerb unabhängiger auszugestalten – und an der EMPA ein Eidgenössisches Qualitätsinstitut ins Leben zu rufen. Dieses Institut müsse Qualitätsindikatoren entwickeln und ein Qualitätsmonitorings betreiben. Die Vorteile dieser Neuerung seien vielfältig: Die Daten würden wissenschaftlich und unabhängig von den Akteuren des Gesundheitswesens erhoben, der Qualitätswettbewerb werde gefördert und die Patientenautonomie erhöht. Gregor Zünd schloss mit den Worten: «Dies dürfen wir nicht den Akteuren des Gesundheitssystems überlassen. Ein unabhängiges, nationales Qualitätsinstitut, das – ähnlich der EMPA – als Prüfanstalt operiert, kann hier den längst notwendigen Impuls geben.»

«Zugang zu Spitzenmedizin für alle»

In der darauf folgenden Podiumsdiskussion, moderiert von UGW-Geschäftsführer Christian Bretscher, brachten Regine Sauter, Nationalrätin (FDP), Mitglied der Gesundheitskommission und Präsidentin des nationalen Spitalverbands H+, und Yvonne Gilli, Präsidentin FMH (Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte), im Gespräch mit den beiden Referenten ihre Perspektiven ein.

Regine Sauter stimmte zu, dass der Blick nicht nur auf die Kosten gelegt werden dürfe Die Qualität des Schweizer Gesundheitswesen sei aber insgesamt sehr gut, betonte sie. Alle hätten rund um die Uhr Zugang zu Spitzenmedizin. «Wir haben eines der besten Gesundheitssysteme der Welt», sagte Regine Sauter. Befragungen zeigten, dass die Schweizerinnen und Schweizer dies sehr zu schätzen wüssten. Die klare Ablehnung der Kostenbremse- und der Prämieninitiative habe dies deutlich zum Ausdruck gebracht.

Diese hohe Qualität gilt es für Regine Sauter zu bewahren. Mit Gregor Zünd ist sie einig, dass Grundsatzfragen diskutiert werden müssen: «Auch in der Spitalversorgung müssen wir uns fragen, welches System langfristig eine gute Versorgung sicherstellen kann.» Für sie sei klar, dass «die Zukunft integrierten Netzwerken der Gesundheitsversorgung gehört, die ohne staatliche Lenkung, aber mit höchstem Kosten- und Qualitätsbewusstsein Leistungen für Patientinnen und Patienten erbringen».

Anzusetzen ist für Regine Sauter auch bei der Eigenverantwortung. Gestärkt werden könne diese durch flexiblere Versicherungsmodelle. Als Optionen nannte die Gesundheitspolitikerin eine Erhöhung der maximalen Franchise oder die von der FDP eingebrachte Budget-Krankenkasse: «Heute haben wir ein Krankenkassenmodell, das wie bei einem Buffet nach dem Prinzip «All you can eat» funktioniert. Das sollten wir flexibilisieren.»

Engagierte Diskussion mit Christian Schär, Yvonne Gilli (Präsidentin FMH), Regine Sauter (Nationalrätin und Präsidentin H+), Gregor Zünd, Christian Bretscher (v.l.n.r.)

Für FMH-Präsidentin Yvonne Gilli gilt Eigenverantwortung auch für die Akteure des Gesundheitswesens. Sie appellierte: «Lösen wir unsere Probleme selbst. Wir haben eine komfortable Ausgangslage, aber auch viel zu verlieren. Noch ist die Qualität des Gesundheitswesens hoch – aber wir sind daran, sie zu gefährden.» Wenn es nicht gelinge, gemeinsam Lösungen zu entwickeln, «dann spielen wir jenen in die Hände, die etwa die Einheitskasse fordern», mahnte Yvonne Gilli. «Wir müssen nun selbst anpacken und den Wettbewerb fördern.»

Einen Fokus legte Yvonne Gilli auch auf das Thema Fachkräftemangel. Dieser werde das viel grössere Problem sein als die Kostenentwicklung, hielt sie fest. Nötig sei eine Ausbildungsoffensive. Leider werde die Thematik unterschätzt: «Wir sind nicht gut darin, Probleme zu lösen, wenn die Not nicht gross ist.»

Ein wichtiges Element sei es, die Ambulantisierung zu fördern. EFAS gelte es bei der Abstimmung unbedingt durchzubringen: Im Falle einer Referendumsabstimmung müsse den Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern mit vereinten Kräften erklärt werden, warum ambulante und stationäre Behandlungen gleich zu behandeln seien. «Heute ist die Bevorteilung von stationären Behandlungen einer der grössten Fehlanreize im System», sagte Yvonne Gilli. Die Abstimmung ist zwischen November 2024 und Mai 2025 zu erwarten.


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